Die größte Gefahr ist das Totschweigen

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Interview mit dem Schriftsteller Rolf Stolz

Der Publizist und Schriftsteller Rolf Stolz ist seit 1980 Mitglied der Grünen, gehörte ihrem ersten Bundesvorstand an und war Sprecher des 1984 gegründeten und bis zur Wiedervereinigung aktiven Initiativkreises Linke Deutschlanddiskussion (LDD). Seit Anfang 2014 ist er Mitglied der AGMO e.V. Im Interview spricht er über seinen Blick auf die Lage der deutschen Volksgruppe in der Republik Polen und dringende Änderungen in der deutschen Minderheitenpolitik.

Herr Stolz, warum haben Sie sich entschieden, Mitglied der AGMO e.V. zu werden?

Die Mitgliedschaft ist Ausdruck meiner grundsätzlichen Unterstützung der Positionen der AGMO e.V. Zudem bin ich durch meinen eigenen Familienhintergrund dem Osten verbunden und habe seit 1999 mehrere Lesereisen nach Rumänien unternommen - dort gab und gibt es eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Kulturvereinen, auch aus den Reihen der deutschen Volksgruppe. Dreimal habe ich seit den achtziger Jahren das Posener Land und die Gegend um Konin besucht – von dort stammt meine Familie.

Publizist und Schriftsteller Rolf Stolz

Wie schätzen Sie aus Ihren Erfahrungen vor Ort die Wahrnehmung der Deutschen durch die polnische Mehrheitsbevölkerung ein?

Das hängt davon ab, mit wem man spricht. Es gibt ein breites Spektrum von der völligen Verdrängung oder Rechtfertigung der Vertreibungen bis hin zum grundsätzlichen Bewußtsein dafür, daß Gebiete des heutigen Polen einmal deutsch oder deutsch geprägt waren.

Welche Rolle kommt den Deutschen Freundschaftskreisen bei der Bewahrung des Erinnerns an diese Tradition zu?

Hier kommt es auf jeden Einzelnen an, denn es gibt mittlerweile Orte, die noch vor hundert Jahren zu einem Drittel von Deutschen bewohnt waren und wo heute der einzige, der noch Deutsch spricht, ein neunzigjähriger Pole ist. Das ist eine Entwicklung, die zu Sprachlosigkeit führt - wenn Angehörige deutscher Familien nur noch "Guten Tag" sagen können, aber gleichzeitig als Deutsche im Alltag diskriminiert werden.

Was ist in Ihren Augen notwendig, um diesem Übel zu begegnen?


Es ist eine intensive deutsche Kulturpolitik von Nöten. Deutschland muß mit dem Goethe-Institut und Sprachschulen präsent sein und mit örtlichen Kräften zusammenarbeiten - weit über die Volksgruppe hinaus. Ein gutes Beispiel ist das Schiller-Haus in Bukarest, das der rumäniendeutschen Volksgruppe gute Möglichkeiten kultureller Entfaltung gibt. Es gehört der Stadt Bukarest, hat eine rumänische Direktorin und finanziert sich im wesentlichen durch Deutschkurse. Die Unterstützung durch die Bundesrepublik ist minimal. Dabei leistet es viel mehr als das örtliche Goethe-Institut. Solche im Land verankerten Institutionen arbeiten nicht nur ökonomischer, sondern sind auch breitenwirksamer. In Osteuropa nimmt das Interesse an Deutsch zu, daraus muß man etwas machen, statt von deutscher Seite absurderweise Veranstaltungen auf englisch anzubieten oder solche, die sich nicht an die breite Bevölkerung richten.

Hier sind also Veränderungen erforderlich.

Was wir brauchen, ist die grundsätzliche Bereitschaft, sich zu engagieren und auch Konflikte in Kauf zu nehmen. Der Weg, sich immer klein zu machen, funktioniert nicht. Konkret sollte die Bundesrepublik neben dem Goethe-Institut verstärkt die Vielzahl an örtlichen Gruppen und Kulturvereinen direkt finanzieren - hier werden Sprache und Kultur gemeinsam vermittelt. Die Förderung muß unten bei den Menschen stattfinden - in der Fläche und nicht nur in den Städten. Kulturarbeit ist nicht mit einer Zentraleinrichtung getan, von der aus sich Impulse fortsetzen. Das heißt: Es ist verheerend, sich nur an die "Leader" in der großstädtischen Gesellschaft zu wenden - auf Dauer ist Basisarbeit notwendig, in den kleinen Städten und Dörfern.

Sehen Sie in Deutschland jenseits der klassischen vertriebenennahen politischen Akteure die Bereitschaft, eine solche Politik zu leisten?

Im Moment ist das Bewußtsein für die Thematik hier noch minimal. Teile der Linkspartei sind noch auf dem Stand der SED der 50er Jahre: Es gibt Umsiedler, die integriert werden müssen und dann regelt sich das Problem biologisch. Bei Teilen der Grünen haben wir eine ähnliche Situation. Meine Partei leidet unter der Schizophrenie, einerseits vehement gegen heutige Vertreibungen einzutreten und andererseits die Vertreibung der Deutschen samt ihren Folgen zu verharmlosen oder gar abzuleugnen.

Wie jedoch kann langfristig ein Bewußtseinswandel herbeigeführt werden?

Das wird nur durch stetige Information und Diskussion möglich sein. Dabei dürfen Konflikte nicht gescheut werden, denn die größte Gefahr ist das Totschweigen. Aufgabe - auch der AGMO e.V. - ist es, Unrecht, das damals geschah und das heute geschieht, beim Namen zu nennen - ein Mahner zu sein, der nicht locker läßt.

Welche Erfolgsaussichten gestehen Sie einem solchen Wirken zu?

Niemand von uns weiß, was diese Arbeit bringt - aber: Sie hat eine innere Notwendigkeit. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß das Zeitalter des Friedens noch nicht angebrochen ist. Bewaffnete Konflikte gibt es nicht nur in der Ferne, sondern auch an den Rändern Europas. In dieser Situation ist die Erkenntnis grundlegend: Morden, Völkermord und Vertreibungen muß entgegengetreten werden. Neue Verbrechen dürfen nicht dadurch ermutigt werden, indem man vergangene Verbrechen vergißt oder rechtfertigt. Hierzu trägt die Arbeit für die Heimatverbliebenen, wie sie die AGMO e.V. leistet, bei.

Die gemeinnützige Gesellschaft wurde 1980 als Arbeitsgemeinschaft Menschenrechtsverletzungen in Ostdeutschland (AGMO) gegründet.
Die AGMO e.V. wurde im Jahre 1990 in das Vereinsregister eingetragen.